Mors hoch – Europa braucht klare, demokratische Alternativen

04.01.2019 | Allgemein

„Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“, hat Hermann Hesse gesagt und mir geht es bei jedem Jahreswechsel so. Es mag sich nur eine Jahreszahl ändern, aber es ist für mich immer auch ein Moment des Innehaltens und Kraft tankens. Ich blicke auf das vergangene Jahr zurück – auf gutes und auf schlechtes. So wie wir das wohl alle machen.

Vor allem aber treffe ich rund um den Jahreswechsel Freundinnen und Freunde aus der Schulzeit, die es mittlerweile in alle Welt verstreut hat.

Zwischen den Jahren habe ich meine Freundin Hannah wiedergesehen. Mit ihr bin ich in Ahrensburg zur Schule gegangen. Hannah lebt seit der 10. Klasse in London, arbeitet dort in einer Anwaltskanzlei. Ihr Vater ist Brite, sie selber hat die deutsche und die britische Staatsbürgerschaft. Natürlich sprachen wir über den 29. März. Der Tag an dem Großbritannien, die Europäische Union – Stand heute – verlässt.

Hannah ist wie viele in meiner Generation ein Kind der europäischen Einigung. Ihre Eltern haben sich auf einem Schwimmwettkampf kennengelernt, der von ihren Partnerstädten organisiert wurde. Sie hat in fünf europäischen Ländern gelebt, Erasmus in Spanien und Portugal gemacht. In Europa studiert, gearbeitet, viele Freunde kennengelernt.

Und jetzt kommt dieser Brexit. Hannah hat zwar Glück im Unglück. Sie kann sich weiter frei in der Europäischen Union bewegen und muss keinen 85-Seitigen Antrag für einen Aufenthalt im Vereinigten Königreich ausfüllen. Schließlich hat sie die doppelte Staatsbürgerschaft. Die sie übrigens – ginge es nach der neuen CDU-Vorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer und vieler anderen konservativen Kräfte, auch nicht haben sollte.

Klar ist aber: Für ganz viele wird der Austritt eine persönliche Tragödie. Zwischen vielen Familien und Freunde in Europa liegt plötzlich eine neue harte Grenze.

Auch politisch, wirtschaftlich und kulturell ist der Brexit ein großer Verlust. Das macht mich als Europäerin traurig.

Auf der anderen Seite ist es beeindruckend, wie alle 27 EU-Staaten bei den Brexit-Verhandlungen an einem Strang gezogen und ein gutes Abkommen verhandelt haben. Klar ist: Auch UK kann nicht die Vorteile der EU-Mitgliedschaft genießen, ohne die Pflichten. Und gerade merken viele Menschen in Großbritannien, dass die EU vielleicht doch gar nicht so schlecht ist, wie sie über viele Jahre gemacht wurde. Das ist auch für uns ein wichtiger Perspektivwechsel. Häufig merkt man eben erst was man hatte, wenn man droht es zu verlieren.

Hannah berichtete von der Wut, Ohnmacht, Unsicherheit und dem Bedauern das viele ihrer Kolleginnen und Freundinnen empfinden, wenn sie an den Brexit denken. Über die fehlenden Informationen, was nun konkret die Folgen sind, die Lügen und Halbwahrheiten, die die Brexiteers in der Kampagne verbreitet haben und jetzt die Bürgerinnen und Bürger ausbaden müssen.

Es bleibt ungewiss, ob das britische Parlament das Abkommen annimmt, ob es zu Neuwahlen kommt oder gar zu einem zweiten Referendum, bei dem die wirklichen Optionen auf den Tisch kommen.

Für Hannah, für unsere Generation ist Europa schon längst kein Projekt mehr. Für uns ist Europa die Realität, in der wir leben. Sich frei bewegen, Freund*innen finden, Neues lernen, sich verlieben studieren, arbeiten – grenzenlos. Die jungen Briten werden jetzt aus dieser Realität herausgerissen.

Wir kennen die Geschichte Europas als Friedensprojekt. Wie nach zwei schrecklichen Kriegen aus Feinden Freunde wurden. Die Europäische Integration war seitdem immer etwas, das nach vorne gerichtet war, es ging immer weiter –  es war nicht immer genug, aber es war immer mehr.

Die Zukunft Europas ist ungewiss und wir stehen an einem Scheideweg. Jede Wahl ist wichtig, aber es ist nicht zu dramatisch die Europawahl 2019 kann gut und gerne als Schicksalswahl bezeichnet werden.

Gewinnen die Rechten weiter hinzu und führen uns zurück in den Nationalstaat?

Oder geben wir der EU neuen Schwung, eine neue Idee und endlich Antworten auf die dringenden Fragen dieser Zeit?

Und ja dazu gehört das Eingeständnis: Wir, die wir für Europa werben, haben ein gigantisches Glaubwürdigkeitsproblem. Niemand kann erklären, warum die EU über Nacht Milliarden für Banken mobilisieren kann, aber nach wie vor 125 Millionen Menschen in Europa in Armut leben. Niemand kann erklären, warum es möglich ist, dass Amazon Milliardengewinne in unserem Europa einfährt und darauf weniger Steuern zahlen muss als die Buchhandlung Lenz hier in Barmstedt. Und niemand, wirklich niemand, kann erklären, warum im Jahr 2018 vor den Küsten des europäischen Friedensprojektes sterben mussten. Warum seit über zwei Wochen 33 Menschen auf der Sea Watch 3 seekrank ausharren, obwohl viele Kommunen sich zur Aufnahme bereit erklärt haben.

Diese sozialen Widersprüche müssen wir auflösen, wenn wir die Leidenschaft für Europa neu entfachen wollen. Nicht die Lösung vorhandener Missstände sind das Ziel von den Salvini, Kurz und Co, sondern die Durchsetzung ihrer eigenen Machtphantasien.

Ich werde 2019 für ein Europa kämpfen, das sich seine Agenda nicht aus den Parolen von Rechtspopulistinnen diktieren lässt, sondern an seinen Gründungsprinzipien orientiert: Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und Wahrung der Menschenrechte

Das ganze Dilemma Europas zeigt sich an der Geschichte meiner Freundin Maria aus Madrid. Sie und ihr Freund würden gerne eine Familie gründen. Beide top ausgebildet, rutschen aber von einer befristeten Stelle in die nächste. Familienplanung? Können sich beide in dieser Unsicherheit kaum vorstellen. Da muss Europa handeln:  Dem neoliberalen Sparkurs der letzten Jahre müssen wir ein Pakt für Gerechtigkeit und Solidarität entgegensetzen.

Die Interessen der Bürgerinnen und Bürger müssen über dem Profitstreben von Banken und Konzernen stehen. Die VerursacherInnen der Wirtschafts- und Finanzkrise gehören endlich zur Kasse gebeten.

Das Europa, für das ich kämpfe, organisiert Umverteilung zwischen Reich und Arm, harmonisiert das Steuer- und Bankensystem, bekämpft Steuerflucht und investiert endlich in die Zukunft von jungen Menschen.

Mein Europa spielt ArbeitnehmerInnen in Europa nicht gegeneinander aus, sondern stärkt und sichert ihre Rechte. Das soziale Europa darf nicht länger Lippenbekenntnis und Symbolpolitik sein. Die Bekämpfung sozialer Spaltung in Europa ist Voraussetzung für das Zusammenwachsen des Friedensprojekt

Dieses Europa schiebt die Energiewende nicht länger auf künftige Generationen ab, sondern stellt dem Klimawandel mutige Entscheidungen entgegen und packt den Kohleausstieg europäisch an.

Statt europäischer Billigexporte, brauchen wir eine wertegebundene Handelspolitik auf Augenhöhe. Es braucht einen transparenten und nachhaltigen EU-Haushalt, der an die politischen Prioritäten der EU angepasst wird. Wenn wir erkennen, dass wir Herausforderungen nur europäisch gemeinsam lösen können, dann gibt’s das nicht zum Sparpreis. Nicht auf Kosten anderer Bereiche.

Für all das reicht es nicht nur über mehr Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten zu sprechen – wie es beispielsweise Macron tut.  Es ist nicht entscheidend, wie das europäische Haus aufgebaut wird, sondern was in diesem Haus passiert. Und wer in diesem Haus die Richtung vorgibt. Wir müssen die lähmende Große Koalition in Brüssel endlich abschütteln.

Orte, wo europäische Zukunft gestaltet wird, dürfen nicht länger EU-Gipfel und Hinterzimmer sein. Der Ort dafür muss ein starkes Europäisches Parlament als Zentrum der Europäischen Demokratie sein.

Deshalb reicht es nicht, wenn wir jetzt wieder Europa-Fahnen schwenkend für das beste Friedensprojekt aller Zeiten werben. Das müssen und werden wir auch tun keine Frage!

Es darf aber nicht nur darum gehen, ob wir für oder gegen Europa sind. Dann steht ein großer undurchsichtiger und bunt gemischter Block von Parteien gegen die Rechtspopulisten.

Wir müssen auch zeigen, dass es im pro-europäischen Lager unterschiedliche politische Konzepte gibt.

Es ist unsere Verantwortung als Demokratinnen und Demokraten 2019 zu einem Jahr zu machen, in der wir überall darüber debattieren, wie für uns das europäische Haus weitergebaut werden kann

Damit Europa wieder zum Hoffnungsprojekt der vielen und nicht der wenigen zu machen. Die Antwort auf die Herausforderungen in Europa kann weder Weiter-So noch Re-Nationalisierung heißen! Die Antwort ist eine fortschrittliche Vision von Europa. Nur dieses Europa hat eine Zukunft.

Machen wir dieses Jahr der Entscheidung zu einem Wendepunkt für Europa und zu einem Wendepunkt für die europäische Sozialdemokratie.